Dysthyme Störung

Psychische Störungen

Steckbrief

Die dysthyme Störung (Dysthymie) ist eine anhaltende affektive Störung, die durch eine andauernde leichtgradige depressive Verstimmung über einen Zeitraum von mindestens 2 Jahren charakterisiert ist. Sie ist eine der am häufigsten übersehenen und unbehandelten psychischen Störungen. Bei oftmals mangelndem Krankheitsbewusstsein führt Dysthymie bei den Betroffenen zu jahrelangem subjektivem Leiden, gravierenden Beeinträchtigungen und einem massiven Verlust der Lebensqualität. Bei Betroffenen ist es meist nur einer Frage der Zeit, bis sich neben der reinen Dysthymie eine volle depressive Episode (>95% der Fälle) und weitere komorbide Erkrankungen (75% der Fälle) ausbilden. Die Spontanremission beträgt marginale 10%. Obwohl Dysthymie als schwer zu behandeln gilt, zeigen Pharmako- und Psychotherapie gute Effektstärken bei adäquater Umsetzung. Zur angemessenen Diagnostik wird die Erstellung einer Lebenslinie empfohlen.

    Aktuelles

    • Die 11. Fassung der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD-11) wurde nach 11-jähriger Entwicklungsarbeit im Mai 2019 verabschiedet und ist am 01. Januar 2022 in Kraft getreten. Zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Kapitels lag keine deutsche Übersetzung durch das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) vor. Da die wichtigen Änderungen für die dysthyme Störung dennoch berücksichtigt werden sollen, orientieren sich alle Aussagen zur ICD-11 an der englischsprachigen ICD-11 MMS Version („frozen release“) und werden nach Veröffentlichung der deutschen Ausgabe aktualisiert.

    Synonyme

    • Dysthymie
    • Dysthymia
    • anhaltende, ängstliche Depression
    • depressive Neurose
    • neurotische Depression
    • depressive Persönlichkeit(sstörung)
    • persistierende depressive Störung

    Keywords

    • dysthyme Störung
    • Dysthymie
    • chronische Depression
    • persistierende depressive Störung

    Definition

    • Die Diagnose Dysthymie wurde erstmals 1980 in der dritten Fassung des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) der American Psychiatric Association (APA) etabliert, um den Ausdruck der depressiven Persönlichkeit zu ersetzen und chronische depressive Verläufe als affektive Erkrankung zu berücksichtigen. Trotz heftiger Kontroversen schloss sich die ICD-10 1993 diesem Vorgehen an und nahm die Dysthymie in die Kategorie der affektiven Störungen auf.
    • Nach ICD-10 ist die dysthyme Störung (F34.1) eine anhaltende affektive Störung mit chronischer, d.h. mehrere Jahre andauernder depressiver Verstimmung, die weder ausreichend schwer noch hinsichtlich einzelner Episoden anhaltend genug ist, um die Kriterien einer rezidivierenden depressiven Störung (F33) zu erfüllen.
    • In der ICD-11 wurden die Kriterien spezifiziert und verschärft. Nach ICD-11 ist die dysthyme Störung (6A72) durch eine andauernde depressive Verstimmung über einen Zeitraum von mindestens 2 Jahren (bei Kindern und Jugendlichen 1 Jahr) über den Großteil der Tage und den Großteil des Tages charakterisiert. Während der ersten 2 Jahre der Erkrankung werden die Kriterien für eine majore depressive Episode nicht erfüllt. Tritt nach den ersten 2 Jahren der Erkrankung zusätzlich eine majore depressive Episode auf, so spricht man von „Double Depression“.
    • Weitere Symptome der dysthymen Störung sind im Abschnitt Symptomatik zusammengefasst.
    • Tab. 22.1 zeigt eine ausführliche Gegenüberstellung von ICD-10 und ICD-11.
    Tab. 22.1 Gegenüberstellung von ICD-10 und ICD-11.

    Version

    ICD-10

    ICD-11

    Kategorie

    F3 Affektive Störungen

    6A Mood Disorders

    F34 Anhaltende affektive Störungen

    6A7 Depressive Disorder

    Bezeichnung

    F34.1 Dysthymia

    6A72 Dysthymic Disorder

    Beschreibung

    chronische depressive Verstimmung

    persistent depressive mood

    Zeitkriterium

    wenigstens mehrere Jahre andauernd

    lasting 2 years or more for most of the day, for more days than not

    Symptome

    additional symptoms

    • markedly diminished interest or pleasure in activities

    • reduced concentration and attention or indecisiveness

    • low self-worth or excessive or inappropriate guilt

    • hopelessness about the future

    • disturbed sleep or increased sleep

    • diminished or increased appetite

    • low energy or fatigue

    Abgrenzung zur depressiven Episode

    weder schwer noch hinsichtlich einzelner Episoden anhaltend genug […], um die Kriterien einer depressiven Störung (F33.-) zu erfüllen

    During the first 2 years of the disorder: there has never been a 2-week period during which the number and duration of symptoms were sufficient to meet the diagnostic requirement for a depressive episode.

    Abgrenzung zur bipolaren Störung

    no history of manic, mixed, or hypomanic episodes

    Einschluss

    • anhaltende ängstliche Depression

    • depressive Neurose

    • depressive Persönlichkeit(sstörung)

    • neurotische Depression

    • Dysthymia

    Ausschluss

    ängstliche Depression (leicht, aber nicht anhaltend; F41.2)

    anxiety depression (mild or not persistent) (6A73)

    Anmerkung: Zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Kapitels lag keine deutsche Übersetzung der ICD-11 durch das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) vor. Da die wichtigen Änderungen für die dysthyme Störung dennoch berücksichtigt werden sollen, orientieren sich alle Aussagen an der englischsprachigen ICD-11 MMS Version („frozen release“) und werden nach Veröffentlichung der deutschen Ausgabe aktualisiert.

    • In der 5. Fassung des DSM (2013) wurde die Dysthymie in die neu etablierte Kategorie der persistierenden depressiven Störung (PDD) aufgenommen. Diese umfasst neben dem reinen dysthymen Syndrom auch die Double Depression (dysthymes Syndrom mit einer überlagerten depressiven Episode), die chronische Major Depression (volle depressive Episode, die mehr als 2 Jahre andauert) und die rezidivierende Depression ohne Remission. Im Gegensatz zur ICD, die anhand der Symptomschwere klassifiziert, berücksichtigt das DSM-5 als zusätzliche Dimension bei der Klassifizierung den zeitlichen Verlauf und bietet mit der PDD eine eigenständige Kategorie für chronische depressive Erkrankungen (300.4). Bei PDDs wird zwischen leichtem, mittlerem und schwerem Schweregrad sowie zwischen frühem und spätem Beginn (vor/nach dem 21. Lebensjahr) unterschieden.

    Epidemiologie

    • Dysthymie ist eine der am häufigsten übersehenen und unbehandelten psychischen Störungen. Trotz oftmals fehlendem Krankheitsbewusstsein führt sie bei den Betroffenen zu jahrelangem subjektivem Leiden, gravierenden Beeinträchtigungen und einem massiven Verlust der Lebensqualität.

     

    Häufigkeit
    • Die 12-Monats-Prävalenz in verschiedenen nationalen epidemiologischen Untersuchungen an repräsentativen Stichproben beträgt 0,5–2,5%.
    • Die Lebenszeitprävalenz beträgt 0,9–6,4%.

     

    Altersgipfel
    • Dysthyme Störungen beginnen häufig in Kindheit, Jugend oder frühem Erwachsenenalter und verlaufen per definitionem chronisch (>2 Jahre). Eine Erkrankung vor dem 21. Lebensjahr ist mit einer höheren Wahrscheinlichkeit mit komorbiden Persönlichkeitsstörungen oder Substanzmissbrauch assoziiert.
    • In manchen epidemiologischen Studien nimmt die Prävalenz der Dysthymie ab dem 60. Lebensjahr scheinbar ab. Diese Abnahme wird u.a. durch die häufig verbreitete Annahme erklärt, dass eine depressive Verstimmung im Alter normativ sei und somit keinen Krankheitswert habe. Spezielle epidemiologische Studien zeigen jedoch, dass die Prävalenz von subsyndromaler Depression (Kriterien einer depressiven Episode nicht vollständig erfüllt) mit dem Alter und verstärkt ab dem 80. Lebensjahr deutlich ansteigt.

     

    Geschlechtsverteilung
    • Analog zu den nichtchronischen depressiven Störungen treten dysthyme Störungen bei Frauen ungefähr doppelt so häufig auf wie bei Männern.

     

    Prädisponierende Faktoren
    • hohe Ausprägung in Neurotizismus
    • niedrige Ausprägung in Extraversion
    • Verwandte ersten Grades mit affektiven Störungen
    • Verlust oder Trennung von einem Elternteil
    • widrige Umstände in der Kindheit: körperlicher Missbrauch, körperliche Vernachlässigung, emotionaler Missbrauch, emotionale Vernachlässigung, sexueller Missbrauch
    • geringe soziale Unterstützung
    • kleines soziales Netzwerk
    • vermeidende, unterwürfige oder feindselige zwischenmenschliche Interaktionsmuster (interpersonelle Stile)
    • Alexithymie (Unvermögen, eigene Gefühle wahrzunehmen und zu integrieren)
    • dysfunktionale Kognitionen und Grübelneigung (Rumination)

    Ätiologie und Pathogenese

    • Aktuell gibt es kein umfassendes Ätiologiemodell zur Entstehung der Dysthymie. Zahlreiche Studien weisen auf ein multifaktorielles Entstehungsmodell hin, das genetische, biologische, psychosoziale und Umweltfaktoren integriert. Wie bei anderen depressiven Erkrankungen soll die Behandlung individualisiert und anhand eines biopsychosozialen Modells erfolgen.
    • Im Vergleich zur episodischen Depression gibt es für die dysthyme Störung nur wenig aktuelle Evidenz zu pathophysiologischen Faktoren:
      • serotonerge Abnormalitäten: verminderte Serotoninwiederaufnahme in den Thrombozyten, verringerte 5-Hydroxyindolylessigsäure-Werte (5-HIES; Serotoninmetabolit) im Urin, verringerte Monoaminoxidase-Werte in den Thrombozyten
      • Dysregulation des Immunsystems: Erhöhung von CD16/56, erhöhtes CD4/CD8-Verhältnis, erhöhte basale Interleukin-β-Spiegel, erhöhte IP-10-Spiegel (Interferon gamma-induced Protein 10)
      • neuroendokrine Abnormalitäten bei Dysthymie mit frühem Beginn: erhöhte Basisspiegel von Plasma-CRH und Kortisol
      • psychophysiologische Veränderungen: N200, P300, N1-P2-Response
      • schlafbezogene physiologische Marker: erhöhter Anteil des Rapid-Eye-Movement-(REM-)Schlafs, verkürzte REM-Latenz, höherer Anteil des Stadium-I-Schlafs, Verminderung des Tiefschlafs
      • Die eingeschränkte Anzahl von genetischen Studien ermöglicht aufgrund der kleinen Stichproben, ausbleibenden Replikationen und fehlenden genomweiten Analysen bislang keine Aussage zur zugrundeliegenden Genetik der dysthymen Störung.
      • Ebenfalls liegen aktuell keine eindeutigen Befunde hinsichtlich neuronaler Strukturen oder Netzwerke vor.
    • Basierend auf dem DSM-5 wird bei chronischer Depression inklusive Dysthymie zwischen frühem (vor dem 21. Lebensjahr) und spätem (nach dem 21. Lebensjahr) Beginn unterschieden. Bei chronischer Depression mit frühem Beginn besteht eine höhere familiäre Belastung für affektive Störungen, es liegen häufiger widrige Umstände in der Kindheit vor (Missbrauch oder Vernachlässigung), eine größere Komorbidität mit Angst-, Substanz- oder Persönlichkeitsstörungen und eine häufigere neuroendokrine Dysregulation. Chronische Depression mit Beginn nach dem 21. Lebensjahr steht im stärkeren Zusammenhang mit belastenden Lebensereignissen, insbesondere mit somatischen Erkrankungen und der Erkrankung oder dem Verlust eines Angehörigen.

    Symptomatik

    • andauernde depressive Verstimmung
    • Interessenverlust
    • Freudlosigkeit (Anhedonie)
    • Aufmerksamkeits-, Konzentrationsstörungen, Entscheidungsschwierigkeiten
    • geringer Selbstwert, übermäßige Schuldgefühle
    • Hoffnungslosigkeit
    • Schlafstörungen (Einschlaf-, Durchschlafstörungen , Früherwachen, Hypersomnie)
    • Zunahme oder Abnahme des Appetits
    • Energielosigkeit, Müdigkeit

    Diagnostik

     

    Diagnostisches Vorgehen
    • Dysthymie ist eine der am häufigsten übersehenen und unbehandelten psychischen Störungen. Dies liegt einerseits daran, dass Patienten mit Dysthymie ihr Erleben und Verhalten häufig nicht auf eine psychische Störung zurückführen, ihre Symptome als ich-synton empfinden und ihr dysphorisches Selbst als „normal“ betrachten. Andererseits fokussieren Behandler häufig die Symptome komorbider Störungen (z.B. Angst- oder Suchterkrankungen) und diagnostizieren eine Double Depression fälschlicherweise als majore depressive Episode.
    • Die Diagnostik der Dysthymie beruht auf der Selbstauskunft des Patienten, der Fremdanamnese nahestehender Personen, der Anwendung standardisierter klinischer Instrumente (Fragebögen und Interviews) sowie der klinischen Expertise des Behandlers.
    • Dies ist bei der dysthymen Störung aus mehrerlei Gründen problematisch:
      • verzerrte Selbstauskunft: Die Mehrheit der Betroffenen mit chronischer Depression berichten, dass sie ihre Symptome haben, „so lange sie zurückdenken können“ und sie als Teil ihrer Persönlichkeit sehen. Patienten verfügen somit über kein „gesundes Selbstkonzept“.
      • fehlende/verzerrte Fremdanamnese: Dysthyme Patienten verfügen häufig über ein sehr dünnes soziales Netz, sodass eine Fremdanamnese eventuell nicht möglich ist. Sind Angehörige vorhanden, dann lassen sich bei ihnen aufgrund der langen Chronizität der Erkrankung häufig die gleichen Verzerrungen wie bei den Betroffenen selbst feststellen („Er/sie war schon immer so.“)
      • diagnostische Interviews: Die meisten (halb)strukturierten diagnostischen Interviews (z.B. Strukturiertes Klinisches Interview für DSM, SKID; Mini-Internationales Neuropsychiatrisches Interview, M.I.N.I.) beinhalten eine eigene Sektion für dysthyme Störungen. Diese beziehen sich jedoch häufig nur auf akute Dysthymie oder werden bei Vorliegen einer majoren depressiven Episode übersprungen.
      • Fragebögen: Gängige Depressionsfragebögen lassen sich zur Diagnostik von chronischer Depression und insbesondere der Diagnostik einer dysthymen Störung nur eingeschränkt verwenden. Oft werden die häufigsten Symptome der Dysthymie wie Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Wertlosigkeit oder kognitive und vegetative Symptome nicht explizit abgefragt. Zudem erfolgt die Beurteilung meistens in Bezug auf einen „normalen“ oder „üblichen“ Zustand, der bei Menschen mit dysthymer Störung aufgrund der jahrzehntelangen Erkrankungsdauer nicht als Referenzpunkt präsent ist.
      • Verzerrung des Behandlers: Falls der Fokus bei der Anamnese ausschließlich auf der Schwere, nicht aber der Dauer der Symptome liegt, kann eine Dysthymie fälschlicherweise als eine subsyndromale/leichte depressive Episode fehldiagnostiziert werden.

     

    Anamnese
    • Eine ausführliche längsschnittliche Krankheitsanamnese hinsichtlich des depressiven Verlaufs einschließlich potenzieller (hypo)manischer Episoden ist Grundlage des diagnostischen Prozesses. Bei Vorliegen nichtchronischer depressiver Episoden ist die ausführliche Exploration des Befindens vor und nach der akuten depressiven Episode entscheidend, um dysthyme Phasen nicht zu übersehen. Zur angemessenen Diagnostik wird die Erstellung einer Lebenslinie empfohlen (Abb. 22.1).

    Praxistipp

    Die graphische Darstellung des Verlaufs durch eine Lebenslinie zeigt Abb. 22.1.

    Abb. 22.1 Lebenslinie.

    Beispielhafter Verlauf einer Double Depression.

    Praxistipp Falls Patienten beim Ausfüllen von Selbstberichtfragebögen Schwierigkeiten aufgrund des Fehlens eines „normalen“/„gesunden“/„üblichen“ Zustands haben, kann die Instruktion diesbezüglich verändert werden: „Im Vergleich zu anderen gesunden Menschen …“
    • Mason et al. [5] entwickelten mit der Cornell Dysthymia Rating Scale (CDRS) eine spezifisch für dysthyme Störungen konzipierte Skala mit guten psychometrischen Werten und einer größeren Änderungssensitivität als gängige Depressionsinstrumente.
    • Das General Behavior Inventory (GBI, [2]) ist das einzige Selbstberichtsinstrument, das explizit für das Screening von chronischen affektiven Störungen entwickelt wurde. Es weist gute psychometrische Werte auf und zeigt in verschiedenen Stichproben eine hohe Übereinstimmung mit halbstrukturierten Diagnoseinstrumenten.

     

    Körperliche Untersuchung
    • Dysthymie-spezifische körperliche Untersuchungen sind aktuell nicht vorhanden.

     

    Labor
    • Es liegt aktuell keine ausreichende Evidenz zu dysthymiespezifischen Laboruntersuchungen vor.

       

    Differenzialdiagnosen

    Tab. 22.2 Differenzialdiagnosen der Dysthymie.

    Differenzialdiagnose

    Bemerkungen

    andere affektive Störung

    Zur Differenzierung zwischen den verschiedenen affektiven Störungen wird die Anfertigung einer Lebenslinie (Abb. 22.1) empfohlen. Bei Vorliegen von dysthymen Phasen ist eine Zyklothymie (dysthyme und hypomane Episoden) auszuschließen. Bei Vorliegen einer depressiven majoren Episode sollten potenziell vorhergehende oder nachfolgende dysthyme Phasen exploriert werden, um eine Double Depression nicht zu übersehen.

    psychotische Störung

    Anhaltende depressive Verstimmung ist ein sehr häufiges Merkmal psychotischer Störungen wie Schizophrenie oder schizoaffektive Störung. Die Diagnose einer eigenständigen Dysthymie ist gerechtfertigt, wenn das Syndrom nicht ausschließlich innerhalb des Verlaufs der psychotischen Störung einschließlich der Residualphase auftritt.

    affektive Störung aufgrund einer zugrundeliegenden medizinischen Bedingung

    Anhand einer ausführlichen Anamnese, körperlichen Untersuchung und Labordiagnostik ist auszuschließen, dass die depressive Verstimmung die direkte pathophysiologische Folge einer spezifischen medizinischen Bedingung ist (z.B. multiple Sklerose, Hypothyreose, Schlaganfall oder medikamenteninduziert).

    substanzinduzierte depressive Störung

    Patienten mit Dysthymie weisen komorbid häufig einen Substanzmissbrauch oder eine Substanzabhängigkeit auf. Eine Abgrenzung erfordert eine genaue zeitliche Exploration. Bei einer substanzinduzierten depressiven Störung tritt das dysthyme Syndrom nur im Kontext eines Substanzkonsums oder dessen Entzugs auf.

    Persönlichkeitsstörung

    Patienten mit Dysthymie weisen sehr häufig komorbide Persönlichkeitsstörungen auf (insbesondere Cluster B und C). Falls ein dysthymes Syndrom ausschließlich als Folge interaktioneller Schwierigkeiten durch das persönlichkeitsgestörte Verhalten auftritt, so rechtfertigt dies keine eigenständige Diagnose einer Dysthymie.

    • Die Verlaufsformen verschiedener depressiver Störungen zeigt Abb. 22.2.

    Abb. 22.2 Depressive Störungen.

    Verlaufsformen verschiedener Störungen nach ICD-10. (Quelle: Volz H. Klassifikation. In: Kasper S, Volz H, Hrsg. Psychiatrie und Psychotherapie compact. 3., überarbeitete Auflage. Stuttgart: Thieme; 2014. doi:10.1055/b-002-94106)

    (Quelle: Volz H. Klassifikation. In: Kasper S, Volz H, Hrsg. Psychiatrie und Psychotherapie compact. 3., überarbeitete Auflage. Stuttgart: Thieme; 2014. doi:10.1055/b-002-94106)

    (Quelle: Volz H. Klassifikation. In: Kasper S, Volz H, Hrsg. Psychiatrie und Psychotherapie compact. 3., überarbeitete Auflage. Stuttgart: Thieme; 2014. doi:10.1055/b-002-94106)

    Therapie

     

    Therapeutisches Vorgehen
    • Dysthymie wird als eine schwierig zu behandelnde Erkrankung angesehen. Dies liegt unter anderem an folgenden Faktoren:
      • verspäteter Behandlungsbeginn: Menschen mit chronischer Depression leben durchschnittlich 7 Jahre (Median) mit ihrer Erkrankung, bis sie professionelle Hilfe erhalten [3].
      • Ich-Syntonie: Die Mehrheit der Betroffenen mit chronischer Depression sehen ihre Symptome inzwischen als Teil ihrer Persönlichkeit, sie verfügen somit über kein „gesundes Selbstkonzept“.
      • depressionstypische Kognitionen: verstärkte dysfunktionale Einstellungen, Rumination und ausgeprägtes pessimistisches Denken
      • geringe Therapiemotivation und niedrige Compliance („Es wird sich ohnehin nie etwas ändern.“)
      • ausgeprägtes Vermeidungsverhalten: sowohl emotional als auch auf der Verhaltensebene
      • geringe soziale Kompetenz: vermeidende, unterwürfige oder feindselige zwischenmenschliche Interaktionsmuster (interpersonelle Stile)
    • Psychopharmakotherapie und Psychotherapie als Mono- oder Kombinationstherapie sind die primären Behandlungsansätze für Dysthymie. Im Vergleich zu episodischer Depression sind diese Therapieansätze bei chronischen Verläufen und speziell bei Dysthymie weniger wirksam.
    • Trotz dieser erschwerenden Faktoren gilt dennoch, dass Dysthymie grundsätzlich mit Pharmako- und Psychotherapie behandelbar ist und in wissenschaftlichen Studien große Prä-post-Effektstärken auftreten. Nach der aktuellen S3-Leitlinie zur Behandlung unipolarer Depression soll bei Dysthymie wie auch bei Double Depression eine pharmakologische Behandlung mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI ), trizyklischen Antidepressiva (TZA) oder MAO-Hemmern angeboten werden (Empfehlungsgrad A).
    • Bei Dysthymie sollte eine Psychotherapie angeboten werden (Empfehlungsgrad B).
    • Bei einer Double Depression soll der Patient darüber informiert werden, dass eine Kombinationstherapie mit Psychotherapie und Antidepressiva gegenüber einer Monotherapie wirksamer ist (Empfehlungsgrad A).

     

    Psychotherapie
    • In einer Metaanalyse zu chronischer Depression und Dysthymie zeigte Psychotherapie zusätzliche Effekte gegenüber verschiedenen Kontrollbedingungen [1]. Die psychotherapeutischen Verfahren umfassten kognitive Verhaltenstherapie (KVT), interpersonelle Therapie (IPT), Verhaltensaktivierung, Problemlösetherapie (PST), supportive Therapie, Training sozialer Kompetenzen, kognitiv-interpersonelle Gruppentherapie und Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy (CBASP).
    Merke Der Behandlungseffekt von Psychotherapie steigt konstant mit der Behandlungsdauer. Für einen optimalen Behandlungserfolg sind mindestens 18 Sitzungen notwendig [1]!
    • Auch nach mehr als 30 psychotherapeutischen Sitzungen geht eine Fortsetzung der Behandlung mit zusätzlichen positiven Effekten einher.
    • Einige ältere Studien mit geringer methodologischer Qualität zeigen eine Überlegenheit von SSRI gegenüber Psychotherapie. Die Psychotherapie-Interventionen wurden in diesen Forschungssettings jedoch unzureichend umgesetzt und erfüllen beispielsweise die Mindestanzahl von 18 Sitzungen nicht.
    • In der neuesten Metaanalyse lassen sich Hinweise auf die Wirksamkeit von CBASP als Monotherapie finden.
    • Bei allen chronischen depressiven Störungen ist die aktive Suche und Aufarbeitung der individuellen lebensgeschichtlichen und aufrechterhaltenden Faktoren von großer Wichtigkeit.

     

    Kombinationstherapie
    • Kombinationstherapien mit Pharmako- und Psychotherapie sind Monotherapie-Ansätzen insbesondere beim Auftreten einer Double Depression überlegen.

     

    Pharmakotherapie
    • Eine Netzwerk-Metaanalyse von pharmakologischen Interventionen bei persistierenden depressiven Störungen (inklusive Dysthymie) zeigte, dass selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) wie Fluoxetin, Paroxetin oder Sertralin sowie Moclobemid (MAO-Hemmer), Imipramin (trizyklisches Antidepressivum), Ritanserin (Serotoninrezetor-Antagonist) und Amilsulprid (Neuroleptikum) effektiver als und gleichermaßen akzeptabel wie Placebo sind.
    • Eine weitere Metaanalyse zeigte einen signifikanten Vorteil von SSRI gegenüber trizyklischen Antidepressiva.
    • Mit steigender Erkrankungsdauer sinkt die Wahrscheinlichkeit, auf pharmakotherapeutische Interventionen anzusprechen.
    • Ein substanzieller Anteil der Erkrankten remittiert nach einer reinen medikamentösen Therapie.
    • Ein aktuelles Cochrane Review [4] kommt zu dem Schluss, dass es nach der gegenwärtigen Forschungslage unklar ist, ob eine medikamentöse Erhaltungstherapie nach Remission die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls verringert.
    • Die Wahrscheinlichkeit, auf ein Placebo anzusprechen, ist bei chronischen depressiven Erkrankungen deutlich vermindert (12% statt 35% bei nichtchronischer Depression).
    • Nur 33% der Patienten mit chronischer Depression erhalten Psychopharmaka in ausreichender Dosierung und Behandlungsdauer.

    Verlauf und Prognose

    • Die Beeinträchtigung der Patienten nimmt mit steigender Dauer und Symptomschwere zu (Abb. 22.3).

    © Elsäßer M, Schramm E. Dysthyme Störung. In: Bauer M, Meyer-Lindenberg A, Kiefer F, Philipsen A, Hrsg. Referenz Psychische Störungen. 1. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2021. doi:10.1055/b000000068

    Abb. 22.3 Depression.

    Zweidimensionale Klassifikation der Depression mit den beiden orthogonalen Achsen Schwere und Dauer.

    Merke Fast alle Betroffenen mit Dysthymie erleben im Laufe ihrer Erkrankung mindestens eine volle depressive Episode! Im klinischen Alltag ist es bei Betroffenen meistens nur einer Frage der Zeit, bis sich neben der reinen Dysthymie eine volle depressive Episode ausbildet (>95%)! Aus diesem Grund wurde die Dysthymie im DSM-5 (American Psychiatric Association, 2013) mit anderen Formen chronischer Depression unter dem Kapitel Persistierende depressive Störung zusammengefasst. Die ICD-11 verwendet weiterhin das engere Konzept der reinen Dysthymie.
    • In einer längsschnittlichen Follow-up-Studie von Klein et al. [3] zu dysthymen Störungen und Double Depression erlebten 74% der Patienten innerhalb von 10 Jahren eine Remission. Die durchschnittliche Genesungszeit betrug 64 Monate (Median = 52 Monate). Das Rückfallrisiko der remittierten Patienten war mit 71% sehr hoch. Rückfälle traten meistens innerhalb der ersten 3 Jahre nach Remission auf.
    • Betroffene mit chronischer Depression begeben sich durchschnittlich erst nach 7 Jahren (Median) zum ersten Mal in Behandlung.
    • Das Risiko, unter einer Dysthymie weitere komorbide psychische Störungen zu entwickeln, beträgt 75%.
    • Das Suizidrisiko bei Dysthymie beträgt 3–12%.
    • Dysthymie erhöht das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen, Schlaganfälle, Brustkrebs, Substanzabhängigkeit sowie geschwächte Immunfunktion und verkürzt die Lebenserwartung. Dies liegt unter anderem an einem deutlich schlechteren Gesundheitsverhalten.
    • Die Wahrscheinlichkeit einer Spontanremission ist bei dysthymen Störungen mit ca. 10% deutlich geringer als bei majoren depressiven Episoden. Beim Auftreten einer zusätzlichen depressiven Episode (Double Depression) bleiben nach deren Remission die Symptome der dysthymen Störung häufig bestehen.
    • Folgende Faktoren verschlechtern die Prognose:
      • zusätzliche Erkrankung an einer Angst- oder Verhaltensstörung
      • komorbide Persönlichkeitsstörungen
      • hohe Ausprägungen in Neurotizismus (negative Affektivität)
      • große Symptomschwere
      • geringe globale Funktionalität
      • Verwandte ersten Grades mit einer chronischen depressiven Erkrankung
      • schlechte mütterliche Beziehung während der Kindheit
      • sexuelle Misshandlungen während der Kindheit
    Merke Dysthyme Störungen lassen sich mit Pharmako- und Psychotherapie behandeln und weisen große Prä-post-Effektstärken auf. Im Vergleich zur nichtchronischen Depression zeigt sich bei Dysthymie eine deutlich verzögerte Verbesserung der Symptome.

    Besonderheiten bei bestimmten Personengruppen

     

    Besonderheiten bei alten Patienten
    • Subsyndromale Depression ist bei 15% der ambulanten Patienten über 65 Jahren vorhanden. 

    • Ältere Patienten weisen eine geringere Verträglichkeit und eine verzögerte Response auf Antidepressiva auf. Komorbide somatische Erkrankungen verschlechtern das Ansprechen auf Antidepressiva und erhöhen das Risiko eines depressiven Rückfalls. Insbesondere bei älteren Patienten sollten potenzielle Interaktionen von Arzneimitteln verstärkt berücksichtigt und Antidepressiva mit geringem Wechselwirkungsrisiko verschrieben werden. 

    • Es gibt keine spezifischen Studien zur psychotherapeutischen Behandlung der Dysthymie bei älteren Patienten. Zahlreiche RCT-Studien zur Behandlung der Depression zeigen jedoch eine gute Wirksamkeit für Kognitive Verhaltenstherapie (KVT), Problemlösetherapie (PST), Interpersonelle Psychotherapie (IPT) und psychodynamische Kurzzeittherapie (SSTP). 

    • Die Reminiszenztherapie (RT; auch: Erinnerungstherapie) wurde speziell zur Behandlung von Depression bei älteren Patienten entwickelt und in mehreren Studien hinsichtlich ihrer Wirksamkeit überprüft. Sie umfasst einen Lebensrückblick und die Aufarbeitung und Integration wichtiger autobiografischer Erinnerungen. 

    Literatur

     

    Quellenangaben
    • [1] Cuijpers P, van Straten A, Schuurmans J et al. Psychotherapy for chronic major depression and dysthymia: a meta-analysis. Clin Psychol Rev 2010; 30: 51–62
      Suche in: PubMed Google Scholar
    • [2] Depue RA, Krauss S, Spoont MR et al. General Behavior Inventory identification of unipolar and bipolar affective conditions in a nonclinical university population. J Abnorm Psychol 1989; 98: 117
      Suche in: PubMed Google Scholar
    • [3] Klein DN, Shankman SA, Rose S. Ten-year prospective follow-up study of the naturalistic course of dysthymic disorder and double depression. Am J Psychiatry 2006; 16: 872–880
      Suche in: PubMed Google Scholar
    • [4] Kriston L, Von Wolff A, Westphal A et al. Efficacy and acceptability of acute treatments for persistent depressive disorder: a network meta-analysis. Depress Anxiety 2014; 31: 621–630
      Suche in: PubMed Google Scholar
    • [5] Mason BJ, Kocsis JH, Leon AC et al. Assessment of symptoms and change in dysthymic disorder. In: Kocsis JH, Klein DN, Hrsg. Diagnosis and treatment of chronic depression. New York, NY: Guilford Press; 1995, S.73–88
      Suche in: PubMed Google Scholar

     

    Literatur zur weiteren Vertiefung
    • DGPPN, BÄK, KBV, AWMF. S3-Leitlinie/Nationale Versorgungs-Leitlinie Unipolare Depression – Langfassung. 3. Aufl. 2022. Im Internet: https://www.leitlinien.de/themen/depression; Stand: 29.09.2022
    • Schramm E, Klein DN, Elsaesser M et al. Review of Dysthymia and Persistent Depressive Disorder: History, correlates, and clinical implications. Lancet Psychiatry 2020; 7: 801–812
    • Thase ME, Lang SS. Beating the blues: New approaches to overcoming dysthymia and chronic mild depression. New York: Oxford University Press; 2006

     

    eRef-Link: https://eref.thieme.de/6GYXSGF